Ethanol droht Gefahreneinstufung
BVMed, VDGH, BPI und IHO warnen in einer gemeinsamen Stellungnahme vor der geplanten Gefahreneinstufung von Ethanol durch die Europäische Chemikalienagentur. Die vier Branchenverbände sehen nicht nur die Herstellung von Desinfektionsmitteln, Arzneimitteln und Medizinprodukten gefährdet, sondern auch die Patientenversorgung.
Die geplante Gefahreneinstufung von Ethanol durch die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) schlägt auch in der Gesundheitsindustrie hohe Wellen. Die vier Branchenverbände BVMed, VDGH, BPI und IHO warnen in einer gemeinsamen Stellungnahme vor den Folgen, die eine solche Einstufung hätte. Diese „würde sich gravierend auf die Herstellung wichtiger Arzneimittel und Medizinprodukte und damit auf die Versorgung von Patientinnen und Patienten auswirken“, so der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI), der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed), der Industrieverband Hygiene & Oberflächenschutz (IHO) und der Verband der Diagnostica-Industrie (VDGH).
Vor allem kritisieren die Verbände, dass die zur Bewertung herangezogenen Daten zur Risikoeinstufung nur auf der oralen Aufnahme von Ethanol basierten. „Während die missbräuchliche Einnahme von Alkohol unserer Gesundheit schaden kann, ist Alkohol in der Medizin und Hygiene unverzichtbar. Ethanol ist in Produktionsprozessen sowie in Desinfektionsmitteln, Arzneimitteln oder Medizinprodukten wirksam, sicher und unabdingbar“, so die Verbände.
Das laufende ECHA-Verfahren bezieht sich auf die Biozidprodukte-Verordnung und die CLP-Verordnung („Classification, Labelling and Packaging“). Ethanol könnte als reproduktionstoxisch und/oder krebserzeugend der Kategorie 2 oder sogar der höchsten Gefahrenkategorie 1 („Cancerogen Mutagen Reprotoxic“, kurz: CMR) eingestuft werden.
Die Folgen für die industrielle Gesundheitswirtschaft und damit die Gesundheitsversorgung wären weitreichend. Denn dadurch würde die Verwendung von Ethanol als Haupt- oder Hilfswirkstoff in Produkten und der Einsatz in Produktionsprozessen erschwert, aber auch die Verwendung im Rahmen der geltenden Arbeitsschutzregelungen stark eingeschränkt.
Die vier Branchenverbände haben ein gemeinsames Informationspapier erarbeitet, in dem sie die Ethanol-Anwendungen in der Gesundheitsversorgung thematisieren. Sie beleuchten insbesondere die folgende Bereiche:
Desinfektion und Hygiene
Ethanol wirkt in Desinfektionsmitteln besonders effektiv gegen Bakterien und Viren und ist sicher und biologisch abbaubar. Von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden ethanolhaltige Händedesinfektionsmittel als unverzichtbar eingestuft. Ethanol wirkt spezifisch und alternativlos gegen unbehüllte Viren wie Polioviren. Auch die Zahl nosokomialer Infektionen kann durch den Einsatz alkoholischer Händedesinfektionsmittel gesenkt werden. Eine CMR-Einstufung würde den flächendeckenden Einsatz dieser Desinfektionsmittel signifikant beeinträchtigen.
Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika (IVD)
Medizinprodukte und IVD wären massiv von einer potentiellen Einstufung von Ethanol als CMR-Stoff betroffen: Ethanol kommt in Produktionsprozessen beispielsweise bei der Reinigung und Desinfektion von Produktionsanlagen, bei Klebungen und Beschichtungen sowie als Lösemittel oder im Arbeitsschutz zum Einsatz. Es wird als Hilfsstoff in Produkten und Reagenzien in der In-vitro-Diagnostik z. B. als Lösungsmittel oder Konservierungsmittel eingesetzt.
Ethanol findet Verwendung als Hauptwirkstoff in Medizinprodukten sowie in sogenannten Dual-Use-Produkten. Diese Desinfektionsmittel weisen eine Zweckbestimmung sowohl als Desinfektionsmittel für Medizinprodukte und IVD und deren Geräte als auch als Flächen-/Händedesinfektionsmittel auf und werden als Biozid- und Medizinprodukte in Verkehr gebracht.
Die geplante Einstufung als CMR-Stoff 1 würde als wesentliche Änderung von Produkten ein lang andauerndes Konformitätsbewertungs-Verfahren auslösen und das Inverkehrbringen unter dem Biozidrecht voraussichtlich enorm erschweren.
Arzneimittel und Produktion
Ethanol wird in der Arzneimittelherstellung als Trägerstoff, Konservierungsmittel und zur Extraktion u. a. für Wirkstoffe, ätherische Öle und andere Stoffe, die nicht in Wasser löslich sind, verwendet. Es hat Eigenschaften, die maßgeblich zur Wirksamkeit eines Arzneimittels beitragen, wobei nur geringste Mengen dafür nötig sind. Gerade im Bereich der pflanzlichen Arzneimittel ist Ethanol nicht wegzudenken, denn Alkohol ist einer der wichtigsten Stoffe bei der Gewinnung von Extrakten. Zudem trägt er wesentlich zu Stabilität, Haltbarkeit und Herstellbarkeit von Arzneimitteln bei. Der Einsatz von Ethanol in den Produktionsprozessen ist dabei alternativlos.
Das Fazit von BPI, BV-Med, IHO und VDGH: „Um eine gesicherte Versorgung der Bevölkerung mit Desinfektionsmitteln, Reinigern, Arzneimitteln und Medizinprodukten, sowie die Produktions- und Lieferfähigkeit mit entsprechenden Endprodukten gewährleisten zu können, muss eine Einstufung von Ethanol als CMR-Substanz der Kategorien 1 oder 2 dringend vermieden werden. Ansonsten würde dies dem Zweck der Biozid- und der CLP-Verordnungen zuwiderhandeln, die Gesundheit des Menschen zu verbessern. Stattdessen gäbe es eine Verschlechterung bei der Hygiene und der Gesundheitsversorgung. Der Schutz vulnerabler Patientengruppen, insbesondere im Krankenhaus bzw. im ambulanten Sektor, könnte nicht mehr sichergestellt werden. Gerade auch in Pandemiezeiten ist Ethanol unverzichtbar, um die Versorgung der gesamten Bevölkerung mit wirksamen Desinfektionsmitteln sicherzustellen und damit eine entscheidende Säule im Infektionsschutz zu gewährleisten. Deshalb muss die von der ECHA geplante Gefahreneinstufung von Ethanol im medizinischen Bereich verhindert werden.“